Nikolai Vogel - Und andere Untiefen: Mehr Nicht

aus der Anthologie: "Und andere Untiefen", Black Ink, Scheuring 1993
 

MEHR NICHT

Lange hatte er geschlafen, und jetzt wachte er auf. Es war dunkel, und er war verwundert, denn er hatte das Morgenlicht erwartet, das durch die Vorhänge schimmerte. Also schaute er auf seinem Wecker nach der Zeit, doch er sah die vertraute Digitalanzeige nicht leuchten. Auch noch Stromausfall, dachte er etwas verärgert und wollte noch ein wenig dösen, bis ein komisches Gefühl wuchs und er sich mit einem Schlag blitzwach wußte, von Seltsamkeiten beschlichen. Es war vollkommen finster, nicht einmal Umrisse seines Zimmers, Stille. Er bekam Angst und wollte sich aufrichten, doch es war unmöglich, er wußte nicht wie, er spürte seinen Körper nicht. Ihm wurde bewußt, daß er überhaupt nichts wahrnahm, nichts um ihn herum, und so stellte sich das Gefühl ein, als schwebte er, grenzen-, schwerelos. Doch wo war er, weshalb konnte er nichts tun, hatte keinen Kontakt zu seinem Körper? Und einen Moment beruhigte er sich mit dem Gedanken, er träume, doch dann war er sich mit einemmal sicher, es gäbe keine Träume mehr. Es war, als sei er blind und gelähmt und noch mehr als das, jeglicher Sinn war abhanden, nur Gedanken schienen noch irgendwo gedacht zu werden. Er begann zu suchen, irgendeinen äußeren Anhaltspunkt, an dem er sich festhalten und aufrichten könnte, die verlorene Orientierung wiederfinden. Und es war nichts, und er suchte nun nach sich selbst, dachte, er müßte nur die Augen öffnen, doch er konnte nicht, hatte nicht einmal Augen. Die äußere Welt war verschwunden, und er akzeptierte dies fast auf seltsame Weise, doch er konnte sich noch nicht damit abfinden, daß auch sein eigener Körper verschwunden war, verschwunden sein konnte, eine Körperlosigkeit ihn umgab und aufgelöst hatte, in ihm war, oder sogar er der Grund dafür war, sie aus ihm stieg. Kurz wußte er noch von seinen Sinnen, waren sie präsent in einer Erinnerung, von der er schon nicht mehr wußte, wo sie sich befand, waren dort noch die Bilder von Bildern und Töne von Tönen, gab es Schatten von Düften, dann mußte auch dies verblassen, wurde unvorstellbar, zur Unmöglichkeit, hatte es nie gegeben. Und es wurde selbstverständlich, keinen Körper zu besitzen, allerdings schwand Selbstverständnis, denn die Vorstellung eines Ichs wurde paradox. Und die Gedanken, die erst noch übrigblieben, lösten sich, denn sie hatten nichts mehr, über das sie sein konnten, konnten sich noch eine Weile auf sich selbst beziehen, blitzten nocheinmal auf und waren nicht mehr als nichts

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