Nikolai Vogel: Ein Echo - die Schrift

Rede zur Ausstellungseröffnung "Poetische Positionen" am 14. März 2010 in der Alten Schranne, Nördlingen
 

EIN ECHO - DIE SCHRIFT

Es gibt viele Arten zu schreiben, meine Damen und Herren, es gibt viele Arten der Schrift: Schreibschrift, Schönschrift, Kurzschrift, Festschrift, Anschrift, Zuschrift, Abschrift, Vorschrift, Aufschrift, Ausgangsschrift, Klageschrift, Schmähschrift, Fernschrift, Blindenschrift, Maschinenschrift, Charakterschrift, Druckschrift, Sudelschrift, Spiegelschrift, Schnörkelschrift, Keilschrift, Knotenschrift, Notenschrift, Kanzleischrift, Schnellschrift, Umschrift, Geheimschrift, Runenschrift, Inschrift, Grabschrift, Lobschrift, Reinschrift, Kleinschrift, Federschrift, Niederschrift, Bilderschrift, Kinderschrift, Zierschrift, Kurrentschrift, Unterschrift, Vorschrift, Urschrift, Zeitschrift, Kunstschrift, Gutschrift, Trostschrift, Großschrift, Handschrift: abschreiben, anschreiben, aufschreiben, beschreiben, durchschreiben, vorschreiben, fortschreiben, zusammenschreiben, überschreiben, verschreiben, gutschreiben, zuschreiben, mitschreiben, rechtschreiben, schreiben lernen, die Achten mit Wachsmalkreide, die Schultafeln, das ABC, das Schreiben mit Fingern auf beschlagene Scheiben, die Schulbusfenster, Wunderkerzenworte in Langzeitbelichtung, Geheimschriften, den Tintenkiller und das leicht verlaufende Blau des Korrekturstifts, abgebrochene Bleistiftspitzen, die Spickzettel auf dem Handrücken, Liebesbriefe, die Smileys der Mails, das Zehnfingersystem, die eine Hand auf das "a" und das "s" und das "d" und das "f", die andere aufs "j", "k", "l", "ö", die Daumen beider auf "Leer", die Leere das häufigste Zeichen, mit Abstand, und das Zweifingersystem, jedes Zeichen als intuitive Suche, die Blaue Blume der Hacker, die Null und die Eins, mit der Schrift in die Welt, der Rückzug in die Bibliothek, die alles hereinholt, eine Leseschwäche, Schreibschwäche, Legasthenie, Agrafie, Analphabetismus, Schreibkrampf, und die SMS als das Reich der Daumen, der Kurzfinger für die Kurzmitteilung, die Morseschrift, drei Mal kurz, drei Mal lang, drei Mal kurz, mit der Taschenlampe in die Nacht, die Bettlektüren, heimliches Lesen, die Giftschränke der Bibliotheken, das Ausfüllen von Formularen, Tafel und Griffel, das Umschalten der deutschen auf die englische Tastatur, Farbbänder, sich verhakende Buchstaben, ein Schreibzwang, eine Schreibwut, eine Schreibblockade, Hieroglyphen, die große Anziehung des Unlesbaren, eine Entschlüsselungslust, der Stein von Rosette mit seinen Versionen eines Textes in drei verschiedenen Zeichensystemen, das Unbekannte aus dem Bekannten erschließen, Schriften, in Granit und in Marmor gemeißelt, ist die Ewigkeit lesbar, die älteste Schrift aus dem Abfall von Uruk gezogen, die Uruk-III-Schicht der Sumer, Babylonien, Mesopotamien, im heutigem Irak, viertes Jahrtausend vor Christus, Tafeln voller winziger Zeichen mit Angaben über Abgaben und Steuern, die Schrift als Schuldverschreibung und als Kalender, das Entziffern dessen, was längst vergessen schien, ein Labyrinth in die Vorzeit, die Bibliothek von Babel, die alle möglichen Bücher enthält, also alle, die möglich sind, jeden Text, der aus dem Alphabet gebildet werden kann, ob verständlich oder nicht, das Universum, das andere die Bibliothek nennen, die Unendlichkeit und die Schrift, die Schrift, die sagt, was man sieht, dies ist keine Pfeife, Zuschreibungen, Zeichen, die ein Eigenleben haben, die heilige Schrift, die Schrift der Gottesworte, das, was in den Sternen geschrieben steht, das Buch des Schicksals, in dem die Zeit schon feststeht, bis an ihr Ende, Leuchtschriften, Laufschriften, die Rauchzeichen der Indianer, der eigene Name, in Besitztümer geschrieben, Exlibris, Kommentare in Gästebüchern, Leserbriefe und Rezensionen, Unterschriftenlisten, auswendig gelernte Gedichte, die Konsonanten, die Vokale, die Satzzeichen, das Geheimnis der drei Punkte, Punkt Punkt Punkt ..., als ginge alles immer weiter, das, was die Bindestriche sagen - indem sie es verschweigen, die Marquise von O..., die Vergewaltigung der Schrift, ein Genitivus subjectivus, ein Genitivus objectivus, die Schrift wird vergewaltigt oder sie vergewaltigt selbst, Doppeldeutigkeiten, Mehrdeutigkeiten, Unklarheiten, Äquivalenzen, als stünde irgendetwas geschrieben, was nicht der Interpretation bedürfte, die Deutungshoheit, der Schrift ein Bild geben, ein Flattersatz, ein Blocksatz, eine Mittelachse, Schriftsprache, die Arial, die Times New Roman, die Courier, die Garamond, die Helevetica, die Frutiger, die Futura, die Bauer Bodoni, die Bembo, die Bauhaus, die Century, die Gothic, die Baskerville, die Gill Sans, die Univers, die Verdana, die Folio, die Sabon, die Palatino, die Zapf, mit oder ohne die Füßchen der Serifen, eine Variation von Mittel-, Ober- und Unterlängen, Laufweiten und Proportionen, so viele Schriftarten wie Namen von Kartoffeln, fett, kursiv, unterstrichen, Antiqua und Sütterlin, die x-Höhe, das Lesen aus der Hand, die Lebenslinie, der Fingerabdruck, die DNA, jeder sein eigenes Buch, aber welches Buch liest sich selbst und welches fängt an, sich selbst zu verfassen, das Leben als Schrift, das Periodensystem der Elemente, Buchstabensuppe, Vielschreiber, die Wahl des Schreibgeräts, ein Füller, ein Kuli, ein Bleistift, ein Gänsekiel, Krähenfüße, ein Geschmier, ein Gekleckse, eine Klaue, schwarz auf weiß, die Wörterbücher, Wortschätze, der Adelung, der Grimm, der Kluge, der Dornseiff, der Duden, der Webster, der Petit Robert, Spruchbänder, die Blasen in den Comics, die Erfindung der Seitenzahlen, Klappentexte, die Flut der Werbung, was man alles lesen soll, die Lebenszeit und die Lesezeit, über die sich Arno Schmidt und Hans Wollschläger ihre Gedanken gemacht haben, Leonardo da Vincis Spiegelschrift mit Links, und natürlich der Don Quijote des Pierre Menard, Wort für Wort der von Cervantes und doch ein ganz anderer, die Odyssee von Homer, der Ulysses von Joyce, Goethes Urfaust, Goethes Faust, der aus sich immer weiter wachsende Phantasus von Arno Holz, das WWW von Tim Berners-Lee, die Gefräßigkeit der Suchmaschinen, Name Dropping, Autogrammjäger, Autografen, Andenken, Vorfahren und Nachkommen, ein Herschreiben, Überliefern und in die Zukunft schicken, die fünfhundert Millionen Jahre haltbare Goldplatte der Voyager Raumsonden, Grüße in 55 Sprachen, "Herzliche Grüße an alle", die Wörter und Silben verändern sich laufend, meine Damen und Herren, sie verändern sich, weil wir uns verändern, sie sind nicht unbeweglich, weil wir es auch nicht sind, und die Zeit ist ein Fluss, wir lesen in ihren Strudeln, wir sehen nach oben, auf die Punktformation der Sterne, wie eine lichte Brailleschrift, die wir noch nicht lesen können, wundern uns, staunen, das aufgeschlagene Buch der Welt, wer weiß wie es weitergeht, aber wer möchte schon an das Ende der Geschichte, wo man nicht mehr umblättern kann, die leere Fläche der letzten Seite eine unüberwindbare Wand, die Schrift ist wie ein Echo - und Echo, die Jupiters Gattin Hera nur deshalb so schöne Geschichten erzählte, damit der sich währenddessen seinen Geliebten einschreiben konnte, wurde von der eifersüchtige Hera, als sie es herausbekam, damit bestraft, dass sie nur noch das Ende der an sie gerichteten Reden wiederholen konnte, Echo also verliebte sich in Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt hat, dessen Augen trunken in seinem eigenen Abbild schmökern und sie nicht erhören, die Schrift ist wie ein Echo - und dann macht sie die Stimme zum Echo von sich, Schrift ist wie ein Echo - und dann macht sie die Stimme zum Echo von sich, ist wie ein Echo - und dann macht sie die Stimme zum Echo von sich, wie ein Echo - und dann macht sie die Stimme zum Echo von sich, ein Echo - und dann macht sie die Stimme zum Echo von sich, Echo - und dann macht sie die Stimme zum Echo von sich, und dann macht sie die Stimme zum Echo von sich, dann macht sie die Stimme zum Echo von sich, macht sie die Stimme zum Echo von sich, sie die Stimme zum Echo von sich, die Stimme zum Echo von sich, Stimme zum Echo von sich, zum Echo von sich, Echo von sich, von sich, sich, meine Damen und Herren, herzlichen Dank, und viel Spaß bei der Lektüre dieser Ausstellung.
 

Nikolai Vogel
am 14. März 2010

next ->