Nikolai Vogel: Die Nike ist kein Turnschuh

Eröffnungsrede zur gleichnamigen Ausstellung von Silke Markefka in der Rechstanwaltskammer München am 25. November 2011
 

Nikolai Vogel - Speeches, Reden: Die Nike ist kein Turnschuh
 

DIE NIKE IST KEIN TURNSCHUH

Die Nike ist kein Turnschuh, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Besucher, liebe Mitarbeiter und Gäste der Rechtsanwaltskammer München, sehr geehrter Herr Präsident Staehle, liebe Bildbetrachter, die Nike ist kein Turnschuh, sondern eine Siegesgöttin, der leider der Kopf fehlt ...

Sie sehen hier die Serie "Touristen" der Malerin Silke Markefka. Es ist das erste Mal, dass die Großformate dieser Serie zusammen gezeigt werden, die Werkgruppe aus Florenz war bereits kurz nach ihrer Entstehung in einer Ausstellung dort zu sehen, die beiden Bilder mit Szenen aus dem Louvre haben das Atelier zuvor noch nie verlassen.

Das Jahr 2007 verbrachte Silke Markefka zu einem großen Teil in Florenz. Die Künstlerin trat hier das Villa Romana Stipendium an, den ältesten deutschen Kunstpreis, den jedes Jahr vier in Deutschland lebende Künstler erhalten. Hundert Jahre vor ihr malten Max Beckmann und Käthe Kollwitz in der Villa. Beckmann porträtiere sich hier selbst, in seinem Atelier am Fenster stehend, selbstbewusst, mit dem Rücken zur Stadt - mit dem Rücken zur Kunstgeschichte.

Die große Villa liegt auf einem Hang über der Stadt, die Via Senese hinauf, in Richtung Siena. Wie es vor hundert Jahren dort gewesen sein mag, ist nicht mehr so leicht vorstellbar - die heutige Ausfallstraße war ein staubig mühsamer Weg, das Leben wurde anders organisiert, vieles war aufwendiger zu beschaffen und viel, was heute Stress macht, noch unbekannt. Doch die Aussicht auf die Stadt, mit dem großen Dom, der wie eine gewaltige Schnecke daliegt, hat die Jahrhunderte überdauert. Der große, einsame Park der Villa Romana, in den das Getöse des aus der Stadt fließenden Verkehrs hineinbricht. Zu Fuß hinab in die Stadt. Bis zum Palazzo Pitti ist noch nicht viel los - aber auf einmal ist man mitten drin, vorbei am hässlichen, asphaltierten Platz vor dem Palasteingang, läuft die Ponte Vecchio über den Arno, die Blicke auf Gold und Juwelen, läuft in die engere Altstadt zu den Uffizien, zur Loggia, und trifft überall auf: Touristen.

Touristen wollen alles sehen und können nicht mehr.
Touristen bleiben stehen und müssen verschnaufen.
Touristen folgen bunten Schirmen und werden andauernd abgelenkt.
Touristen schwitzen und haben mit ihren eigenen Körpern zu tun

Silke Markefka hat die Touristen in Florenz und Siena in ihren Blick genommen, in einer Serie aus drei Großformaten, die Sie im Foyer und gleich hier am Anfang des Ganges sehen. Ein Blick, der nicht voyeuristisch ist, der niemanden vorführt, sondern vorurteilslos zeigt, was da ist. Ein Blick, der das, was jeder gerne ausblendet, das, was auf Urlaubsfotos am liebsten weggelassen und vermieden wird, ins Bildzentrum rückt. Silke Markefkas Touristen scheinen zu zerfließen. Es ist heiß, es ist anstrengend, die Füße tun weh, der Rücken schmerzt. Und was genau gibt es da überhaupt gerade zu sehen?

Früher wussten das die Reisenden oft bis ins Detail. Man hat sich vorher mit dem beschäftigt, was einen erwarten wird, hat Stiche gesehen, Beschreibungen gelesen, sich lange vorbeireitet, Bibliotheken konsultiert.

Bibliotheken und Archive sind das Thema einer umfangreichen Serie in Markefkas Werk. Bilder von gefüllten Regalen, Bücheransammlungen, die auf ihren Bildern in fast abstrakte Formationen aufgelöst werden. Wissen, das nicht sichtbar ist, das sich dem Blick entzieht. Hinten im Gang sehen Sie zwei größere Formate, im Seminarraum drei Mittelformate aus dieser "Archiv"-Serie. Gespeicherte Zeit, die Dinge, die man sich immer vornimmt und so oft verschiebt.

Das Reisen war aufwendig und nicht ohne weiteres wiederholbar. Und das, worauf man traf, konnte ein Schock sein, eine Bilderflut, eine Überwältigung, die einen umwarf. Dem französischen Schriftsteller Stendhal ist es in Florenz so ergangen, in seinem 1817 erschienen Buch "Reise in Italien" (Originaltitel "Rome, Naples et Florence") berichtet er von einer Art Ekstase, von starkem Herzklopfen, schreibt, dass er bis zum Äußersten erschöpft war und sogar gefürchtet hat, umzufallen, einen Nervenanfall nenne man das, wusste er selbst. Heute ist nach dieser Schilderung das Stendhal-Syndrom benannt, eine Erschöpfung durch Reizüberflutung, ausgelöst von zu viel, zu intensiv, zu rauschhaft betrachteter und empfundener Kunst. Und wer durch Florenz läuft - und man hat immer noch viel zu laufen in dieser Stadt! - und die Kunstschätze in den Kirchen, Klöstern und Museen zu fassen bekommen will, wessen Blick über all die Fresken und Statuen wandert, wer in den Uffizien in immer noch einen und noch einen Saal und nochmal um ein Eck herum schaut, kein Bild zu versäumen, und dann in die Hitze der großen Piazza della Signoria tritt, dem geht es leicht ähnlich. Stendhal hat vielleicht nur zu wenig Wasser getrunken, glaube ich, er wird dehydriert gewesen sein, die Kunst ließ ihn die Bedürfnisse seiner eigenen Körperlichkeit vergessen. Und ich stelle mir vor, auch Stendhal könnte sich in Silkes Markefkas Bild wiederfinden, als einer von vielen, die vor der Loggia stehen. Die Touristen vor der Loggia dei Lanzi. Wie sie aussieht, weiß in München jeder - die Feldherrnhalle ist eine Kopie.

Touristen, die sich im Weg stehen. Die Sehenswürdigkeiten kommen nur schemenhaft in den Blick, man weiß sie sind da und sie bleiben da, wenn alle, die gerade hinschauen schon wieder weg sind. Doch Silke Markefkas Touristen bringen auch Farbe, Bewegung, sie machen Geschichte lebendig und zeigen beiläufig, wie es in unserer Gegenwart aussieht. In einem der Bilder malt Silke Markefka nur das bunt auf den Boden und in den Wandhintergrund, worauf der Blick eines Besuchers fällt. Das als Sehenswürdigkeit apostrophierte existiert nur, solange es gesehen wird. Die Nebenkapelle im Dom von Siena, die der Schauplatz dieser Szene ist, wird selbst kaum sichtbar.

Als Silke Markefka ihr Atelier in Florenz bezog, musste sie die neue Umgebung für ihre Bildwelt erst produktiv machen. Draußen, vor dem großen Atelierfenster standen Zypressen. Sie hatte nie vor, Zypressen zu malen, denn das haben schon so viele andere gemacht - alleine es ging nicht anders, sie mussten ins Bild, erst dann konnte sie an ihnen vorbeisehen - und heute sind sie eine ihrer schönsten Serien. In Silke Markefkas Katalog "Licht, Lüster", den sie letztes Jahr veröffentlicht hat, können Sie einen Blick darauf werfen.

Genauso verfuhr sie mit den Touristen: Sie sehen, sie malen, sie zeigen - und damit auch Platz machen für eine neue Sicht. Als sie im Bilde waren, aufgehoben, wurde Florenz beinahe zu einer anderen Stadt ...

Silke Markefka, die in der Akademie der Bildenden Künste in München bei Professor Günther Förg studiert hat und dort als Meisterschülerin 2008 ihr Diplom machte, arbeitet oft in Serien, und in diesen sowohl mit großen Formaten, als auch mit kleineren Gegenstücken dazu. Ihre Bilder gehen weder in realistischer Abbildung, noch in abstraktem Konzept auf, sie sind beides, sie erkunden den Raum zwischen der sichtbaren, erinnerten und vorgestellten Welt, zwischen Gegenstand und Idee, und ihre Wahrnehmung beschränkt sich dabei nicht auf das Hier und Jetzt, sondern bringt Zeiten und Räume zum Schwingen.

Ihre Touristen-Serie aus Florenz hat Silke Markefka zwei Jahre später in Paris wieder aufgegriffen, im Louvre. Auf den Bildern sehen wir zwei der drei weltberühmten Frauengestalten dieses berühmtesten aller berühmten Museen: Die Venus von Milo und die Nike von Samothrake. Schemenhaft, in weiches Licht getaucht. Ein Geschiebe und Gedränge bei der Venus, die Fotoapparate gezückt. Die armlose Göttin scheint über all dem zu stehen, ihr Blick fängt den ihrer Betrachter nicht auf, sie ist unangreifbar, wie in einem anderen Raum. Eine ähnliche Transzendenz auch auf dem Bild der Nike von Samothrake. Hier diffundieren die Museumsbesucher zwar vorbei, urban, lässig, fast teilnahmslos, im Gespräch, nutzen ihren Sockel sogar als Lehne zur Lektüre. Und doch bekommt die Nike, kopflose Göttin des Sieges, auf diesem Bild eine eindrückliche und dabei fast schwebende Präsenz. Eine faszinierende Gleichzeitigkeit, eine über die Jahrtausende gespannte Gegenwart, ein ins Bild gebannter, dauernder Moment.

Die Kunstwerke stehen in einer eigenen Zeit, ihre Zeit ist eine andere, als die der Betrachter, die weiterziehen. Die Kunstwerke sind widerständig, sie scheinen zurückzublicken, aber es ist der Blick der Betrachter, der aus ihnen zurückblickt. Der Betrachter, der das Besondere sieht oder nicht, den das Gesehene kalt lässt, oder der emotional reagiert, sich richtiggehend "verschaut", es zum Bestandteil des eigenen Lebens werden lassen will. So wie Bilder, die man besitzt, die man immer wieder betrachtet, die den eigenen Blick anregen und ihm gleichzeitig Halt geben, die einfach da sind. Über meinem Computer, auf dem ich diese Rede schrieb, hängt ein kleines Bild aus Silke Markefkas Serie "Archiv", zu dem ich jetzt gerade beim Verfassen dieser Worte aufblicke und an das ich, in meiner Rede hier angekommen, denke. Freilich können Sie sagen, ich sei kein unvoreingenommener Beobachter, ich lebe seit mehr als fünfzehn Jahren mit der Malerin Silke Markefka, und da werde ich mich wohl hüten, bei so einer Gelegenheit Böses zu sagen, anstatt Komplimente zu machen - wohl wahr, aber ich kenne sie, ich weiß um die Konsequenz, mit der sie malt, ihr Werk vertieft und entfaltet. Und schließlich können Sie sich ja hier selbst überzeugen. Bewegen Sie sich durch die Bilder - nehmen Sie sich Zeit, entdecken sie auch das kleine Bild eines bunten Kronleuchters und die beiden mit Bleistift gezeichneten, voller Schwung. Bilder ohne Titel aus ihrer vielleicht umfangreichsten Serie "Lüster", die das verglimmende Licht, die Sehnsucht nach dem Prunk einer Epoche, dem Glanz einer vergangenen Zeit ins Bild holt, die es so nie gegeben hat - bewegen Sie sich durch die Ausstellung und tauchen Sie ein in das große Ozeanbild - reisen Sie in diese Bilder, lassen Sie Ihre Nerven davon anregen, aber trinken Sie etwas! Meine Damen und Herren, herzlichen Dank!

Nikolai Vogel
am 25. November 2011


Photo © by Eltorn
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