Nikolai Vogel: Black Ink Feier VIP

Rede zur Feier des Black Ink Verlags für Autoren, Freunde und Mitstreiter am 20. August 2008 in Scheuring
 

BLACK INK FEIER VIP

Liebe Freunde,

liebe Autoren, Wortberger, Silbendreher, Metrumreiter, Erinnerungsablauscher, Fundstückebewahrer, Tastensucher, Notizzettelverwalter, Periodenbauer, Copypaster, auch ich bin kein Freund eines fadigen Vorworts (1), aber neulich musste ich mit dem Zug wohin, in einen Vorort. Zuerst kam der Zug nicht und ich vertrieb mir die Zeit, indem ich ein Lied pfiff. Das Warten ist eine Landschaft sagte ich mir, versuchte den Horizont zu erspähen (2), aber er blieb hinter dem Bahnhof, der Oberleitung und den Signalen verborgen. Neben mir warteten andere. Gar nicht so verspätet sehen wir den Zug einfahren. Ein schlaksiger Kerl neben mir seufzt befriedigt "Endlich! Endlich haben diese Wichte ihre Schuldigkeit ausreichend getan. Endlich brennt die Kohle, endlich glüht das Eisen rot. (3)" Was ist das denn für einer, frage ich mich beim Einsteigen. Und hat auch noch einen Fuchsschwanz am Gürtel hängen. "You have to be as cool as Alain Delon", sagt ein anderer und drückt seine Kippe erst im letzten Moment aus. (4) Im Zug musst' ich erst mal und las ein Schild, dass das Wasser kein Trinkwasser ist. (5) Na und, dachte ich? Der Stuhlgang war etwas hart, aber das hatte zumindest den Vorteil, dass man nicht so lange auswischen musste. (6) Die Spülung rauschte, ich hatte mich erhoben, zog die Jeans hoch, wusch mir die Hände. Der Blick dann jedes Mal in den Spiegel - sich selbst das Gesicht kontrollieren, ob es noch das gewohnte ist. (7) Als ich endlich ins Abteil kam - nein, ein Abteil war es gar nicht, sondern ein Großraum, saß da mir gegenüber ein bezauberndes Mädchen und las - und aß Gurkensalat, garniert mit Zitrone. Wie sie wohl heißen mag, überlegte ich. (8) Ich wollte wirklich exzentrisch wirken, traute mich aber nicht so ganz. (9) Und da passierte es mir, dass sich mein Sinnen, besser, dass sich mein Sehnen nach Überirdischem in einen bedrohlichen Strudel verwandelte; ich war ganz außer mir, das Wesentliche kann ich gar nicht mehr erzählen, aber kleinere sexuelle Feinheiten blieben mir in Erinnerung und wären erzählbar. Dass das Ganze schließlich in Wüstenei ausartete, dafür bin ich, falls ich einen milden Richter finde, nicht allein verantwortlich. Trotzdem schäme ich mich. (10) Bücher werden selten gelesen. Die meiste Zeit stehen sie im Regal, zeigen den Rücken. (11) Also unterbrach ich sie nicht bei der Lektüre und schaute nur hinaus. Luft einatmen. Luft ausatmen. (12) Endloses rattern. Felder. (13) Schneise des Geruchs durchs halboffene Fenster. Dünger: vorgestellt die Langsamkeit des alten Lebens auf den Höfen. (14) Doch ich lebe in der Stadt. So lange, dass ich mich kaum mehr an das Landleben erinnern kann. Oder doch ...? (15) Was sehe ich? Ein Gerippe am Wegesrand, ein totes Handy im Schmutz? Nein, fröhliche Menschen bei der Arbeit. Und ein paar geschmückte Gräber. (16) Was erwartet die Bevölkerung? Was denkt sie sich aus? Was macht sie vor lauter Erwartung? (17) Überall wird an kleinen quadratischen Häusern gebaut. (18) Ich habe mir dieses Land nicht ausgesucht, aber andererseits hat es mich auch nicht ausgesucht. (19) Der Zug hält jetzt an jedem zweiten Pilz. (20) Der Schaffner läst versehentlich seinen Kugelschreiber vor meinem Füßen fallen, haucht mir seinen Atem ins Gesicht. (21) Luft einatmen. Luft ausatmen. Nach Bier riecht er nicht (22) und ich komme nicht darauf nach was. Nach Joghurt vielleicht, ja, nach abgelaufenem Joghurt. (23) Draußen verladen die Lastkrähne Wolken und ich träume die unsichtbare Welt, die Kurven und die Widerstände. Prophase, Anaphase, Metaphase und Interphase zischten vorbei (24) und der Zug fuhr in eine echoreiche Gegend, -egend (25). Das Mädchen mit der Zitrone -ohne, und den Gurken, -urken, klappte ihr Buch zu, -uh, und stieg da raus, -aus. Schade, dachte ich und rief ihr hinterher. "Ich hätte mich doch aber noch gerne mit dir besprochen" - rochen. Sie zögerte. "Vielleicht das nächste Mal" -aal. Und schon fuhr der Zug wieder weiter -eiter, einen Höhenzug hinauf, -auf, auf den die Echos nicht mitkamen, -amen, sondern sie blieben alle unten im Talgrund, -und und unterhielten sich dort, -ort -ort -ort. Dafür kommt mir nun sogar ein fliegender Berg entgegen. (26) Er kommt mir sehr entgegenkommend entgegen, was mich misstrauisch macht. Ich pflege bei gar zu einfachen Angelegenheiten immer einen Haken zu vermuten. (27) Einen Augenblick lang zögerte ich: Sollte ich umkehren, zurück zum warmen, behaglichen Zuhause? Doch ich war der geheimnisvollen Aura, die diesem Werk der Natur anhaftete schon erlegen. (28) Scharf sehen, das war es. Einen klaren Kopf behalten. (29) Und wenn der Berg einen Schnupfen hat? (30) Egal. Die Realität war schon immer eine schwierige Sache gewesen. (31) Ich legte mir allmählich eine Geschichte zurecht. Ich musste ja Erklärungen haben, für das, was vorgefallen war. Wenn auch nicht für mich, so doch wenigstens für andere. (32) In der Erinnerung gibt es keine absolute Wahrheit, sondern nur die Wahrheit des Beobachters. (33) Und Taschentücher hatte ich dabei. Ich war ausgerüstet. Zwei Wochen war ich sicher schon unterwegs. Ich hatte in Dutzende von Buchläden schauen müssen, um die richtige Karte zu finden. Und mir dann gleich mehrere besorgt, darunter auch eine, auf der die Sextantenwerte eingezeichnet waren, man weiß ja nie, in welche Situation man gerät. (34) Die Fäden hängen überall zu fein sie zu sehen umgeben sie dich einspinnend in das Netz, das du webst. (35)

Fünfzehn Jahre fährt dieser Zug jetzt schon, dieses Textendeckungsunternehmen, in das wir eingestiegen sind. Ich wurde kein Restaurantbesitzer und auch kein Kaffeehausbesitzer, sei's drum. (36) Aber immerhin haben Kilian Fitzpatrick und ich 1993 den Black Ink Verlag gegründet - eine spontane Lust, ein Experiment, der Wunsch etwas selbst zu machen. Dass er so lange trägt, wussten wir nicht. Das Kollektivwerk "Das offene Buch", das am Anfang stand, kam zwar über ein paar Seiten nicht hinaus, aber es legte den Grundstein zu unserer eher experimentellen Ausrichtung, die auf die Vernetzung und Zusammenarbeit von Autoren setzt. "Und andere Untiefen" hieß das erste Buch, eine Anthologie im Eigenbau, in der sogar Teppichklammern eine gewisse Rolle spielten. Und "Black Ink Remix" wird das Buch heißen, das Ende des Jahres erscheint und in dem viele Texte, die zwischen diesen beiden Büchern erschienen, neu geschrieben werden, weiter geschrieben werden. Dazu sehen wir uns dann am ersten Freitag im Dezember, das ist der Fünfte, in der Glockenbachwerkstatt. Der König schläft im Schloss, aber der Hausmeister in seiner Wohnung, und seine Frau in Kaufbeuren oder Buchloe. (37) Der Prinz aber, in seinen Purpurmantel gehüllt, lag allein auf seinem Verdeck unter dem dunkelblauen, sternenübersäten Nachthimmel, und sein Blick - (38)

Nach unserer Überzeugung macht die gute Literatur zu einem großen Teil aus, dass man ausprobieren kann. Das Ausprobieren aber findet kaum noch statt im deutschen Verlagswesen. Größer werden ist das, was heute als einziger normaler Antrieb gilt. Klein anfangen, größer werden. Oder besser, groß anfangen, größer werden. Nur dass, wer größer wird, oft die Lust an der Sache links liegen lassen muss. Karrierefische, denen die Felle davonschwimmen, obwohl sie nur Schuppen haben. (39) Im Sommer der Eitelkeiten mutiert selbst der Vergissmeinnicht. (40) Was ist gesunder oder relevanter Realismus? Dass ich nicht lache! (41) Das ist es ja! Jeder wird in dem Augenblick allein gelassen, in dem man sich einen eigenen Reim darauf machen muss. (42) Das Experiment, das Schwierige, das, in das man sich erst hineindenken, hineinfühlen muss, ist fast überall verpönt - außer es wird von denen betrieben, die es schon betrieben, als es mal noch nicht ganz so verpönt war, die damit also noch zu einem Namen kamen, ja, eben auch, weil sie einfach weiter machten. And the river flows on and on. (43) Wir sagen: Lasst uns ausprobieren und spielen. Ein Grün steht bereit. Schön, dass ihr hier seid, wir freuen uns. Feiern wir in diesem Garten. Den Tag, wie er ist. Für die Texte, die kommen. Und die Mitreisenden. Vielen Dank,
 

Nikolai Vogel
am 30. August 2008



1: Cramer: Fructode, S. 7

2: vgl. Ulrich Bauer-Staeb: Das Warten ist eine Landschaft, das warten ist eine landschaft

3: Cramer: Graphax, S. 7

4: vgl. Paul Huf: You have to be as cool als Alain Delon, sagte Zelko

5: vgl. Cramer: Fructode, S. 11

6: Vogel/Fitzpatrick: Plot, 2a, S 18

7: Vogel/Fitzpatrick: Plot, 2a, S 18

8: vgl. Cramer: Fructode, S. 12

9: Paul Jaeg: Der Landwiener Thomas Bernhard, S. 17

10: Paul Jaeg: Die schwarze Scheide, S. 43

11: Nikolai Vogel: Mißlungene Texte, S. 21

12: Vogel/Fitzpartrick: Mond0, Buch I, 1a, S. 83ff

13: Thomas Glatz: Der dicke Koch, 1a, S. 60

14: Jürgen Bulla/Alexander Holzapfel: A8 Gedichte, Kilometer sechsundvierzig

15: Kilian Fitzpatrick: Die Germanei, S. 5

16: Paul Jaeg: Der Landwiener Thomas Bernhard, S. 15

17: Paul Jaeg: Der Landwiener Thomas Bernhard, S. 16

18: Paul Huf: You have to be as cool as Alain Delon, sagte Zelko, S. 19

19: Maurice Gee: Lebende Fracht, S. 54

20: Thomas Glatz: Der dicke Koch, 1a, S. 60

21: Thomas Glatz: Der dicke Koch, S. 62

22: vgl. Thomas Glatz: Der dicke Koch, S. 62

23: vgl. Glatz/Friede/Stoned: Felix der Weltraumvirus, S. 9

24: Glatz/Friede/Stoned: Felix der Weltraumvirus, S. 9

25: vgl. Glatz/Friede/Stoned: Felix der Weltraumvirus, S. 21ff

26: vgl. Cramer: Montesumas Gnaden

27: Das Offene Buch, S. 2

28: vlg. Fitzpatrick/Schäferle/Vogel: Und andere Untiefen, S. 117 (Christoph Schäferle: Der Fremde im Nebel)

29: Kilian Fitzpatrick: Läufer, S. 25

30: vgl. Cramer: Montesumas Gnaden

31: Vogel/Fitzpatrick: Welt II, S. 114

32: Nikolai Vogel: Wandlung, S. 25

33: Vogel/Fitzpatrick: Zwei Wochen, 2a, S. 103f

34: Vogel/Fitzpatrick: Zwei Wochen, 2a, S. 38f

35: Kilian Fitzpatrick: Läufer, S. 64 (Gedicht von Nikolai Vogel)

36: Maurice Gee: Lebende Fracht S. 165

37: vgl. Glatz/Fitzpatrick/Vogel: Der König schläft im Schloss Remix

38: Arthur Schnitzler: Traumnovelle, S. 5

39: Nikolai Vogel: Qually Band 2

40: Ulrich Bauer-Staeb: Das Warten ist eine Landschaft, aufforderung

41: vgl. Paul Jaeg: Der Landwiener Thomas Bernhard, S. 67

42: Paul Jaeg: Der Landwiener Thomas Bernhard, S. 57

43: Sean Fitzpatrick: All on a May Morning in Scheuring, 2a, S. 98

[Alle Fußnoten dieses Vorworts beziehen sich auf Ausgaben, erschienen zwischen 1993 und 2008 bei Black Ink in Scheuring.]

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