Nikolai Vogel: Abstraktion, Horizont, Evolution

Rede zur Ausstellungseröffnung "Farbpracht", Alexandra Deutsch, Annegret Hoch, Esther Zellmer im Kunstverein Nördlingen am 5. April 2009, Nördlingen
 

ABSTRAKTION, HORIZONT, EVOLUTION

Meine Damen und Herren, liebe Gäste und Mitglieder des Kunstvereins Nördlingen, liebe Künstler, liebe Alexandra Deutsch, liebe Annegret Hoch, liebe Esther Zellmer, eine Rede zu halten ist immer ein Experiment, ein Wagnis, man weiß nicht, ob es gelingt, zumindest wenn man es ernst meint, wenn es nicht nur platitüdenhaft ist, wenn es mehr will, als Klischees wiederzukäuen. So wie das Malen eines Bildes. Man kann die Farbe nicht einfach auftragen, das Bild geht nicht auf im Kalkül, es muss sich entdecken, immer wieder - und es muss entdeckt werden, immer wieder! "Farbe ist diejenige Gesichtsempfindung eines dem Auge strukturlos erscheinenden Gesichtsfeldes, durch die sich dieser Teil bei einäugiger Beobachtung mit unbewegtem Auge von einem gleichzeitig gesehenen, ebenfalls strukturlosen angrenzenden Bezirk allein unterscheiden kann", so kann man es angehen, nach DIN 5033, so kann man es speichern und abheften und ad acta legen, aber dass wir das hier und heute nicht vorhaben, das sehen Sie ja selbst, wenn Sie nur die Augen aufmachen, beide! und um sich blicken in diese Entdeckung eines Raumes, der schon immer dazu diente, das Leben und die Lebendigkeit ganz praktisch zu bewahren, ob als Kornspeicher oder als Ort für neu entstehende Kunst.

"Farbpracht" heißt diese Ausstellung, und beim Wort "Pracht", beim Wort "prächtig", denkt man sofort an die Berichte von Forschungsreisenden, an das Faszinosum, wenn sie von unbekannten Kulturen erzählten, prächtigem Schmuck, Reichtum, Hülle und Fülle, nie Gesehenem also, oder dem, was ihnen die Augen öffnete - eine überraschend bunte, neue Welt. Und auch die Malerei nahm sich ihr an, der Prächtigkeit der Herrscher und ihrer Reiche. Um dann, nachdem die Welt katografiert war, und jeder schon so viel gesehen hatte, oder von der aufkommenden Fotografie gezeigt bekam, ihre ganz eigenen farbprächtigen Räume aufzuspannen: die der Abstraktion.

Malerei, die Farben und Formen nicht vom Gegenstand ablöst, sondern die gar nicht mehr vom Gegenstand her denkt - eine Malerei also, die ganz für sich steht, die nicht abbilden will. Spannend bei Esther Zellmer ist nun aber, dass sie sich aus dieser Abstraktion den Gegenstand wieder rückerschließt, dass sie ihn in ihren Bildern anfängt zu bergen - oder sagen wir: zu speichern. Die Welt abstrakter Malerei und die Welt des sie umgebenden Alltags berühren sich in einer Art und Weise, die kein Abhängigkeitsverhältnis darstellt. Die Farbe war in Esther Zellmers Bildern immer schon da - und mit ihr holt sie jetzt Motive wie Decken, Vorhänge, Berge, Seen auf die Leinwand. Diese Decken, Vorhänge, Berge und Seen werden aber nicht abgemalt, nicht mimetisch wiedergegeben, sondern sie entdecken sich selbst im Bild, als eine Möglichkeit, als etwas, was vorhanden sein könnte, etwas, dessen Gegebenheit einem assoziativ wie eine Erinnerung in den Sinn kommt, wenn man dem Blick in ihre Bilder folgt. Diese assoziative Art, Welt in ihre Bilder, beziehungsweise Welt aus ihren Bildern zu holen, regt Esther Zellmer mit der Titelgebung ihrer Arbeiten, die oft Wortneuschöpfungen sind, weiter an. Diese eröffnen den Betrachtern ein Wortfeld, das das Bildergedächtnis anregt, das ihren Bildern die schon gesehene Welt der Betrachter gegenüberstellt und die Welt der Malerei und Farbe in einen kompositorischen Bezug zum angespielten Motiv bringt. "Malerberg", "Buntsee", "Grünhang", "Graudecke", "Baumblues". Und ein weiteres Spiel eröffnet sich dadurch, dass ihre Arbeiten oft Paare bilden, als ob sie Nacht- und Tagseiten davon anfertigt, mit Licht und Schatten spielt - verschiedene Farbigkeiten entstehen lässt.

Esther Zellmer hat an der Akademie der Bildenden Künste München Malerei studiert und 2002 mit einem Diplom abgeschlossen. 1999 erhielt sie ein Stipendium der Fanny-Carlita-Stiftung, 2005 den ersten Preis des Kunstvereins Bad Aibling.

Farbe existiert nicht alleine, sie wird getragen. Bei Esther Zellmer von Leinwänden oder von Kupferdruckpapier. Aber es gibt auch andere Träger, die sich die Malerei aneignen kann. Bei Annegret Hoch werden so oft die Ausstellungsräume selbst zum Grund für ihre Farbexkursionen. Der Rand ihrer Bilder beschäftigte sie immer mehr. Wie und wo endet ein Bild - vor allem, wenn ich gar nicht will, dass es ein Ende hat? "I would like to paint the horizon without limit" - "Ich würde so gerne einen grenzenlosen Horizont malen" - dieser Satz der amerikanischen Malerin Agnes Martin treibt sie schon länger um. Wo fangen Bilder an, wo hören sie auf? Jedes gute Bild entdeckt die Welt neu und bei Annegret Hochs Arbeit ist das ganz wörtlich zu nehmen, denn oft verlassen ihre Bilder die Leinwand. Sie schlängeln sich Treppenhäuser hoch, tasten, ja tanzen sich in Räume. Nie aber tun sie das ohne Bezug - sie sind keine brutalen Eroberer, sondern sie geben dem Raum, der sie aufnimmt auch etwas zurück, sie definieren ihn neu, machen ihn lebendig, verleihen ihm Struktur und Spannung.

Im Jahr 2003 fand Annegret Hoch in Virginia eine alte Tapete und entdeckte, das Tapeten auf sehr paradoxe Art und Weise vom Horizont handeln. Sie werden von oben nach unten geklebt, also in der Vertikale, aber ihr Muster setzt sich Bahn für Bahn fort, lässt sich beliebig weit ausdehnen, ein aus Vertikalen zusammensetzbarer Horizont. Aber Annegret Hoch macht es sich nicht leicht, sie belässt die Tapeten auf einem senkrechten Streifen, malt zwar waagrechte Linien, aber den Horizont selbst, muss sich der Betrachter daraus erschließen, die Tapete wird ihn nicht einengen dabei, sie wird nicht wandfüllend und sie wird nicht Dekoration - die Muster scheinen häufig nur durch, dann ist sie umgedreht, auf der Rückseite bemalt. Aus tausendfach reproduzierten Ornamenten macht Annegret Hoch so wieder etwas Eigenes, Einmaliges - Kunst, so lange sie eine ist, entkommt immer der Norm! Und sie entwickelt sich dabei doch immer aus der Kunst, die schon da ist. So kann man Annegret Hochs Tapetenbilder und ihre raumgreifenden Arbeiten in der Tradition und als Weiterentwicklung der ältesten Malerei überhaupt sehen: der Wandmalerei in der Höhle, die doch von der Weite der Welt spricht ...

Auch Bekleidungsstoffe werden bei Annegret Hoch zu Bildträgern: Sie spannt mit Mustern bedruckten Jersey, wie er für T-Shirts oder Bettwäsche verwendet wird, zu Tafelbildern auf - nicht auf fertige Keilrahmen, sondern auf Dachlatten oder was sonst gerade zur Hand ist. Und dann legt sie ihre eigenen Farben und Formen über die Muster. Eine Malhilfe könnte man denken, so entfällt die große Angst vor dem weißen Malgrund, könnte man denken, aber nichts weniger als das - es ist nicht leicht, sich gegen das Muster durchzusetzen - oder besser, mit ihm etwas Neues anzustellen, ihm immer wieder eine ganz neue Freiheit zu eröffnen. Eine Freiheit, die viel mit Bewegung zu tun hat, mit Spontanität und eben mit Farblust.

Annegret Hoch studierte wie Esther Zellmer an der Akademie der Bildenden Künste in München und schloss 2000 mit Diplom ab. Gleich anschließend erhielt sie ein DAAD-Jahresstipendium in London, 2003 einen Aufenthalt am "Virginia Center for the Creative Arts" in den USA, 2007 den Bayerischen Kunstförderpreis und zuletzt 2008 das USA-Stipendium des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst, das sie nach New York führte - mitten hinein in die Aufbruchsstimmung des letzten amerikanischen Wahlkampfes. "Sun In My Mouth" nennt sie ihren aktuellen Katalog.

Denn es ist die Sonne, die die Farben ans Licht bringt. Die die Pflanzen atmen lässt, Chlorophyll, das Blattgrün der Fotosynthese ... Die Feldfrüchte wurden früher hier aufbewahrt, Energiespeicher, das Korn für die Winter, Licht, das zur Nahrung wird, die Ernte und die Saat fürs nächste Jahr, damit das Leben weiterblüht. Auch Künstlerateliers sind immer Speicher, in denen die Arbeit lagert und reift. Annegret Hoch und Esther Zellmer arbeiten in München im selben Atelier - und als ich sie zuletzt dort besuchte, um für mich einiges ans Licht zu holen, fing das schon auf dem Stuhl an, auf dem ich saß - die Farbe rankte sich an ihm hoch, hatte ihn sich längst anverwandelt, um gar nicht erst eine Unsicherheit aufkommen zu lassen, dass es sich hier nicht nur um einen Sitzplatz, sondern um einen Dreh- und Angelpunkt inmitten der gerade entstehenden Malerei handelt. Ihre Arbeiten wirken nie nur konstruiert und formelhaft. Keine blosse Ideenkunst.

Kunstwerke, die organisch gewachsen scheinen: Ich stelle mir vor, dass Alexandra Deutsch vielleicht vor einigen Wochen schon hier war, in diesem alten Kornspeicher, in dem wir alle jetzt mit großen Augen stehen, und Sporen gelegt hat, in diesen schönen Raum - unsichtbare, winzige Keimlinge, die dann, als Esther Zellmers und Annegret Hochs Farben diesem Ort ihren Atem einflössten, anfingen aufzugehen, sich zu entwickeln, zu öffnen, zu blühen. Ein geheimnisvolles Biotop, in dem wir uns hier bewegen, eine ganz neue Artenvielfalt, Wesen, bei denen man nicht weiß, sind sie Tier oder Pflanze, Kunstwerke, die direkt hineinführen in die Frage, was das ist, das Leben und das Lebendigsein.

Alexandra Deutsch hat Bildende Kunst an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz studiert, an die sie 2006 für einen Lehrauftrag zurückkam. Sie lebt und arbeitet seit 11 Jahren in Wiesbaden - oft aber ist sie auch in weit entfernten Erdteilen unterwegs. Ein Stipendium führte sie 2005 nach Brasilien, ans Mündungsdelta des Amazonas. Sie sagt selbst, dass sie dort vieles wiedergefunden hat, was schon in ihrer Arbeit war, nämlich eine bestimmte Farbenergie und Formen, wie sie auch in der tropischen Vegetation zu finden sind. Alexandra Deutsch formt Objekte aus ihrem selbst hergestellten Papier, das sie anschließend bemalt. Ganz im wörtlichen Sinne eine Schöpfung! In Brasilien fing sie an, große Objekte aus bunten Stoffen zu nähen. Auch seither wurde ihre Arbeit von Südamerika inspiriert. 2007 war sie in Peru und dieses Jahr bereits in Kolumbien. Dort erarbeitete sie mit einer Tänzerin eine Performance zu ihren Stoffobjekten, die die darin ohnehin schon vermutete Lebendigkeit weiter belegt, wie der mitgebrachte Film zweifelsfrei zeigt. Objekte, die immer auch ihren eigenen Raum erkunden, ihr Innen und ihr Außen. Auf ihren Reisen, sagt Alexandra Deutsch, kommt sie oft gar nicht konkret zur Arbeit, denn es gibt so viel zu entdecken - und vor allem eben auch Menschen, zu denen sie neue Kontakte knüpft. Aber mit jeder Rückkehr merkt sie dennoch, wie sich ihre Kunst weiterentwickelt, wie sie Einflüsse integriert. Und sie bringt von ihren Reisen Farbe mit, so sagt sie, dass zum Beispiel ein Pink, das dort in traditionellen Röcken zu finden ist, neu in ihre Palette einfloss.

Künstler sind immer auch Forschungsreisende - Esther Zellmer erforscht aus der Abstraktion die sie umgebende Wirklichkeit, zeigt die Tag- und Nachtseiten ihrer Farben, katografiert die weiß und unbemalt belassenen Zwischenräume ihrer Bilder. Annegret Hoch lässt sich in New York, trotz Höhenangst, auf die Aussicht von der Dachterrasse ihres Ateliers ein, eine Horizonterweiterung mit vertikal wie eine ihrer Tapetenbahnen darin stehendem Empire State Building, entdeckt ein exklusiv für Künstler eingerichtetes Lager "Material for the Arts", das weitere Musterbücher zur Fortsetzung ihrer Arbeit verbirgt, und findet in einem Bauernhof im Bayerischen Wald auf einem Speicher ein riesiges Tapetenlager aus vergangenen Jahrzehnten - Alexandra Deutsch schöpft ihr Papier, um daraus ihr eigenes buntes Biotop entstehen zu lassen, und liebt es in immer neuen Expeditionen auf Märkte und in Stoffläden vorzudringen und weiterzusuchen, nach Farbigkeiten, nach Materialien, die sie ihrer Arbeit anverwandeln kann, damit die Evolution nicht versiegt. Ein Entdeckertum, das bei allen drei Künstlerinnen aber keine tot aufgespießten und zweifelsfrei bestimmten und damit ad acta gelegten Trophäen wie Falter, Käfer oder Schmetterlinge zurücklässt, sondern eine Lebendigkeit, eine Lebensfreude entstehen lässt, die überschlägt, auf ihre Betrachter, und Kunde gibt, von der prächtigen Farbigkeit der Welt.
 

Nikolai Vogel
am 5. April 2009

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